Patientenautonomie, Therapiezieländerung und „Odysseus-Erklärungen“
Karl-H. Wehkamp, Bremen
Veröffentlicht in Columba-das Palliativportal-Magazin, Bamberg, Frühjahr 2022
„Palliative Care Ethik“ heißt unser Kursangebot an der Bamberger Palliativ-Akademie. Ziel ist die Förderung von „Ethik-Kompetenz“ für Angehörige medizinischer und pflegerischer Berufe. Aber auch für Patienten und ihre Angehörigen ist es wichtig zu wissen, wie in der Medizin Entscheidungen getroffen werden- eben nicht nur von ärztlicher Seite, sondern auch seitens der Betroffenen. Denn es geht um die Wahrnehmung von Patientenrechten im Rahmen gemeinsamer Entscheidungsfindung. Der aktuelle Fachausdruck dazu lautet „Shared Decision Making“.
Aktuelle Fragen der Medizinethik
Entsprechend ist die aktuelle Medizinethik ein zentrales Thema. Deren Inhalt soll in der Vielfalt und Breite ihrer Konzepte und Lehren behandelt werden. Denn es gibt nicht die eine, universelle Medizinethik. Stattdessen stehen neben einem seit der abendländischen Antike weitgehend allgemein akzeptierten Fundus von Grundsätzen und Tugenden, wie er im Eid des Hippokrates formuliert ist, auch kulturspezifisch und historisch sich verändernde Elemente. Während die Grundsätze der Orientierung aller medizinischen Handlungen am Wohl des Kranken und an der Vermeidung von Schaden unumstrritten sind, bleibt die Auslegung, was denn unter Wohl und Schaden zu verstehen sei, oft klärungsbedürftig.
Auch behandeln Ärztinnen und Ärzte längst nicht nur Kranke. Zunehmend nehmen Gesunde medizinische Dienste in Anspruch, sei es im Sinne der Vergewisserung von Gesundheit, der Prävention und Gesundheitsförderung oder im Sinne der Verbesserung ihrer Fähigkeiten und ihres Aussehens. Auch hier gilt jedoch, dass die Patienten nicht zu Schaden kommen dürfen und dass ihr Wohl- und nicht das von Klinikunternehmen oder Ärzten- die Richtschnur sein muss. Je weniger allerdings Krankheit und Not der Anlass für eine Behandlung ist, desto mehr werden aus Patienten Kunden und damit Marktteilnehmer, die „autonom“ entscheiden, welche Produkte oder Dienstleistungen sie einkaufen wollen.
Was gilt – der aktuell erkennbare Wille oder die Vorausverfügung?
Für Ärztinnen und Ärzte sind von Patienten verfügte Erklärungen zum Verzicht auf lebenserhaltende bzw. vermeintlich lebensverlängernde oft dann ein Problem, wenn sie ihrer Verpflichtung, im Zweifel für das Leben einzutreten, nicht nachkommen dürfen. Oft schätzen sie die durch intensive Medizin gegebenen Belastungen für den Patienten auch deutlich geringer ein als diese. Und nicht selten entscheiden sie eben doch „paternalistisch“, indem sie Verzichts- und Sterbewünsche einfach übergehen. Dies ist besonders häufig in Situationen, wo Patienten nicht mehr entscheidungsfähig sind. Es betrifft Menschen in allen Formen von Bewusstlosigkeit, aber auch Menschen mit schweren psychiatrischen Störungen. Besonders komplex ist die Situation bei Demenzen.
Demenzen verlaufen über längere Zeit und mit zunehmendem Schweregrad. Im frühen und mittleren Stadium sind die Patienten durchaus in der Lage, ihre Situation zu erkennen und den wahrscheinlichen späteren Verlauf vorherzusehen. Gefragt, ob sie bei schwerer Demenz noch leben möchten, dürften viele Menschen dies verneinen. Ob sie aber dann wirklich lieber sterben möchten oder nicht doch weiterleben wollen, wenn sie sich in der erwarteten Situation befinden, ist jedoch keineswegs sicher.
Liegt eine bei noch vorhandener Entscheidungsfähigkeit getroffene Patientenverfügung vor, in der ein Weiterleben bei schwerer Demenz als unerwünscht bezeichnet wird, so kann es für Angehörige in der Rolle von Stellvertretern und auch für die behandelnden Ärzte schwierig sein zu entscheiden, ob der dokumentierte Wille wirklich zu befolgen ist.
Es kann also geschehen, dass trotz eines erklärten und dokumentierten Willens zum Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen, zum Beispiel bei einer Lungenentzündung oder entgleistem Blutzucker, auch von Patienten mit schwerer Demenz in der aktuellen Situation Signale des Lebenswillens gegeben werden. Gilt jetzt der aktuell erkennbare Wille oder die Vorausverfügung?
Es gibt kein eindeutiges Richtig oder Falsch
Hier liegt ein klassischer Fall eines Dilemmas vor. Eine Ethik-Beratung ist angezeigt. Es gibt kein eindeutiges Richtig oder Falsch. Die an Stelle des Patienten Entscheidenden haben ein Problem, was immer sie tun, sie bleiben belastet. In Deutschland wird dies, anders in einigen anderen europäischen Ländern, auch nicht wesentlich erleichtert, wenn eine so genannte Odysseus-Verfügung vorliegt. Schon in naher Zukunft könnte diese mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Die „Autonomie“ des Patienten ist im Eid des Hippokrates nicht vorgesehen. Aber als ein wesentliches medizinethisches Prinzip wurde sie in den USA entwickelt, wo die Medizin in ein stark marktwirtschaftliches Gesundheitssystem integriert ist. Der von den Philosophen Beauchamp und Childress um 1975 verfasste Klassiker „Principles of Biomedical Ethics“ prägt bis heute die Medizinethik in der westlichen Welt. Auch in Deutschland gilt „Autonomie“ inzwischen als ein zentraler medizinethischer und rechtlicher Wert, oft wird er an erster Stelle genannt. Die als Paternalismus bezeichnete ärztliche Haltung, wonach eher über den Patienten als von oder mit ihm über die Maßnahmen entschieden wird, ist zwar in der Praxis nicht verschwunden, gilt aber weitgehend als überholt.
Bedeutung der Patientenautonomie
Der Wille des Patienten, die freie Entscheidung im Sinne von Zustimmung oder Ablehnung der von ärztlicher Seite vorgeschlagenen Maßnahmen, bekam unter dem Stichwort Patientenautonomie eine bedeutende Stärkung. Damit ist nicht gemeint, dass Patienten alles Beliebige von der Medizin einfordern können, sondern dass Ärzte nichts tun dürfen, ohne Zustimmung der Patienten auf der Grundlage einer ausführlichen Information (Aufklärung). Und weil die Medizin mit ihrem Grundsatz des Lebenserhalts immer intensivere, effektivere, teurere und oft auch belastende Maßnahmen anwendet, stimmt sie keineswegs immer mit dem vom Patienten selbst empfundenen Wohl überein. So kam mit der Stärkung des Autonomieprinzips auch das Konzept der Patientenverfügung als Abwehrdokument auf, zuerst angesichts der seit den 1960er Jahren aufkommenden Intensiv- und später der Transplantationsmedizin.
Aus den USA wurden Begriffe wie „End-of-Life-Decisions“, „Living Will Declaration“ und „Do-not Resuscitate Order“ übernommen, um Patienten das Recht zu geben, ein Lebensende ohne aggressive medizinische Maßnahmen zu wählen. Wiederbelebungsversuche (Reanimationen), unerwünschte Operationen, Chemotherapien, Dialysebehandlungen und intensivmedizinische Maßnahmen können damit abgewehrt werden. Auch das Recht auf die Verweigerung von Nahrung und sogar Flüssigkeit wird damit gestärkt. Patienten können das im Rahmen der Palliativversorgung entwickelte Konzept der Therapiezieländerung nutzen, indem sie belastende lebensverlängernde Maßnahmen ablehnen und als persönliches Ziel ein friedfertiges Lebensende einsetzen.
Was hat es mit dieser speziellen Form einer Vorausverfügung auf sich? Im Kern geht es darum, im Zustand der (noch vorhandenen) Entscheidungsfähigkeit klare Festlegungen zu treffen für den Fall des Verlusts dieser Fähigkeit, um im Zustand der verlorenen Autonomie geäußerte Willenserklärungen als nichtig oder ungültig zu markieren. Psychisch Kranke können beispielsweise festlegen, dass sie im Falle einer ernsten Krise therapeutische Maßnahmen auch gegen ihren dann aktuellen Widerstand erhalten möchten. Und Menschen mit Demenz könnten festlegen, dass ihre bei noch klarem Bewusstsein getroffene Willenserklärung zum Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen Gültigkeit haben soll, auch wenn sie in der dann aktuellen Lage Zeichen des Lebenswillens geben.
Grenzen des Willens
Odysseus suchte des betörenden Klang der Sirenen, wusste aber auch von ihrer Gefährlichkeit. Deshalb liess sich er sich der Sage nach bei der Durchfahrt durch eine Meerenge an den Mast binden, um ihrem Werben nicht nachgeben zu können. Er wusste aber auch um die Grenzen seines Willens und befahl, man möge ihn, wenn er denn das Lösen der Fesseln verlangen würde, noch fester binden. Der frühere Wille sollte den aktuellen an Kraft überbieten.
Das sowohl für die Psychiatrie als auch im Kontext der Sterbehilfe weder ethisch noch juristisch klar regelbare Problem wird mit wachsenden Möglichkeiten der Medizin bei zugleich wachsender Bedeutung des Autonomieprinzips an Gewicht gewinnen, auch dadurch, dass in Europa die „Sterbehilfe“ ein umstrittenes Thema bleiben wird.